Die Geschichte der alten Spinnerei im Aathal
Anmutig ragen noch heute die Industriekamine der ehemaligen Baumwollspinnereien der Streiff AG am Ufer des Aabachs empor. Sie erinnern an die Zeit der Industrialisierung um 1850, als automatisierte Maschinen zunehmend die schweisstreibende Handarbeit ablösten. Zu jener Zeit war die Garnproduktion in der Schweiz ein wichtiger Industriezweig, der weltweit konkurrenzfähig war. Im Jahr 1901, als Garn sich grosser Nachfrage erfreute, kam es zur Gründung der „Spinnerei Aathal AG“. Der Standort am Aabach war kein Zufall: durch die Errichtung einiger Wasserkraftwerke konnte genügend Energie für die Produktion gewonnen werden. Bereits nach kurzer Zeit surrten 35’900 Spindeln unermüdlich in den Spinnereien am Aabach. Um 1955 wurde das Unternehmen in „Spinnerei Streiff AG“ umbenannt. Es folgten weitere äusserst produktive Jahre: 1969 stellte die Spinnerei rund 2.4 Millionen Kilogramm Garn pro Jahr her.
Das hochwertige Garn aus der Schweiz war gefragt, bis gegen Ende des 20. Jahrhunderts Schwellenländer begannen die gleiche Qualität günstiger zu produzieren. Die meisten Spinnereien in der Schweiz mussten die Arbeit niederlegen, so auch die Streiff AG. Übrig blieben grossflächige Produktionshallen, charmante Kosthäuser und klassizistische Verwaltungsgebäude, die heute einer neuen Nutzung zugeführt werden können.
1901 erwirbt Fritz Streiff-Mettler (1863-1931) die vom «Spinnerkönig» Heinrich Kunz 1851 erbaute «untere Spinnerei» im Unteraathal und die 1862 von Jakob Wegmann erbaute «obere Spinnerei» im Oberaathal, die seit 1873 ebenfalls zum Besitz der Firma von Heinrich Kunz, Windisch zählte. Fritz Streiff zieht mit seiner Familie in das alte Obermeisterhäuschen im Unteraathal, das er 1912 vom Wetziker Architekt Johannes Meier zur herrschaftlichen Villa ausbauen lässt. Zu den Fabrikanlagen gehören zwei Wasserkraftwerke mit Kanälen und Stauweihern, zwei Dampfmaschinen, ein Gaswerk, eine Sägerei, ein Landwirtschaftsbetrieb und diverse Arbeiterwohnungen (sogenannte Kosthäuser).
Noch vor Ausbruch des ersten Weltkrieges wird die «untere Spinnerei» durch eine moderne Shedhalle erweitert. Heute befindet sich in diesem Gebäude das Sauriermuseum und in der benachbarten Villa die Mineralienhandlung von Siber & Siber.
1917-18 ergänzt Fritz Streiff auch die «obere Spinnerei» mit einem Shed-Bau. In den besten Jahren beschäftigt die Firma 950 Menschen, zwei Drittel davon leben auf dem Gemeindegebiet und viele sind Angehörige von Bauern.
1917 erwirbt Fritz Streiff von der Familie Schellenberg die schon 1823 erbaute, querstehende Fabrik (später Mädchenheim und Kantine, heute «Bauelehof», Alders Restaurant). Dazu gehören u.a. ein Pferdestall und ein 1862 erbautes Fabrikantenwohnhaus, das zum Wohnsitz seines ältesten Sohnes Fritz Streiff-von Orelli (1899-1982) wird, als dieser 1924 heiratet und technischer Direktor der Spinnerei wird, während sein Bruder Willy (1902- 1985) die kaufmännische Leitung übernimmt.
1921 kommt die Zwirnerei Thossfell bei Plauen im Vogtland dazu. Von hier wird die lokale, auf Gardinen spezialisierte Kundschaft beliefert bis zum Ausbruch des zweiten Weltkrieges. Der als «nicht kriegsnotwendig» eingestufte Betrieb wird eingestellt und muss 1941 verkauft werden.
1931 stirbt der Firmengründer, zwei Jahre nach dem grossen Börsenkrach von 1929 und drei Jahre vor der grössten Arbeitslosigkeit, die die Schweiz im 20. Jahrhundert kennt. In diesen schwierigen Zeiten fusioniert die Firma Fritz Streiff mit zwei andern Firmen zu den «Vereinigten Spinnereien A.G. Aathal» (VSA). So kommen die Spinnerei Aesch (Kanton Basel-Land) und in Wetzikon die Schönau (1931) und das Floos (1936) dazu. Anfangs der Dreissigerjahre beschäftigen die «Vereinigten Spinnereien» 750 Leute, gegen Ende des Jahrzehnts erreicht die Firma durch die Modernisierung des Maschinenparks mit weniger Mitarbeitenden den Bestand von gegen 100 000 Spindeln.
Die Kriegsjahre bringen Rohstoffknappheit und Produktionsengpässe. Die schwierige Lage erzwingt Personalabbau und die Stilllegung der Fabriken Schellenberg und Stegen. Letztere wird umgenutzt als Gymnasium für junge Soldaten der internierten Polnischen 2. Schützendivision, während die benachbarte Schönau eine Filiale der Zürcher Infanteriekaserne aufnimmt. 1945 zählt der Betrieb noch 211 Mitarbeiter.
1946 profitiert die Firma vom wirtschaftlichen Aufschwung in der Nachkriegszeit. 1961 besitzt sie die Kapazität von fast 120 000 Spindeln und umfasst wieder 750 Mitarbeitende. Die Zusammensetzung des Personals verändert sich zunehmend. Zuerst kommen Rückwanderer aus den von der roten Armee besetzten Teilen Ostdeutschlands: 52 Schweizerfamilien aus Ostpreussen. Dann auch junge Frauen aus Österreich und dem vom Krieg zerstörten Italien, etwas später aus Spanien, Portugal, Griechenland und der Türkei.
1948 erbaut die Firma ein neues modernes Garagen-, Büro- und Laborgebäude (heute «Zentralbüro», Architekt Bruno Streiff). Es folgt eine Zeit diverser Modernisierungen, insbesondere im Maschinenpark, um auf dem Markt Bestand zu haben. Die «Vereinigten Spinnereien» enden 1955 mit dem Rückkauf sämtlicher Aktien durch die Familie Streiff.
1957 erfolgt der Kauf der Buntweberei Fröhlich-Brunschweiler in Ennenda und der Umbau dieser Fabrik zur Feinspinnerei.
1963 wird am südöstlichen Ortseingang der zweistöckige OS-Neubau von Architekt Frank Reinhart in Betrieb genommen. Das Obergeschoss ist säulenfrei konstruiert für die Aufstellung der Rieter-Ringspinnmaschinen. Es ist nach den Shed-Bauten im Unter- und Oberaathal und dem Bürogebäude der grösste Neubau in der Geschichte der Firma bis zur 1988 erfolgten Erstellung des Baumwoll-Lagers 88 entlang dem Eisenbahntunnel an der Gstalderstrasse. Der Neubau im Oberaathal ermöglicht 1963 die Schliessung der Unteren Spinnerei und deren Umnutzung als Schreinerei und Lagerhaus.
1966/68 übernehmen je ein Sohn von Fritz Streiff–von Orelli und Willy Streiff-Schweizer die Leitung der Firma: Jakob und Fritz Streiff.
1990 wird Jakob Streiff-Schmid pensioniert, 1996 Fritz Streiff-Kraus. Erstmals wird die Firma von einem externen Direktor geleitet, und auch in den Verwaltungsrat ziehen externe Fachleute ein. Der zunehmend globalisierte Markt macht der Textilindustrie der Schweiz immer mehr zu schaffen. Kurz nach dem 100Jahr-Jubiläum zeigt sich, dass neue Investitionen nicht mehr lohnen. Hochbau und Shed im Unteraathal werden verkauft. Die Zwirnerei Schönau und die Spinnereien in Ennenda und Aesch werden geschlossen; ebenso Schreinerei, Elektrowerkstatt und die Bauabteilung, während der landwirtschaftliche Gutsbetrieb an den langjährigen Verwalter verpachtet werden kann. Die Spinnereitätigkeit konzentriert sich auf Oberaathal und Floos. Die Firma versucht sich mit neuen Technologien und Rohstoffen (z.B. Silber- und Algenfasern) in neuen Nischen zu positionieren.
2004 beendet die Spinnerei Streiff AG ihre Tätigkeit, als eine der letzten Spinnereien der Schweiz. Der Verwaltungsrat strebt – wie viele andere Firmen in der gleichen Situation – eine Umwandlung des Portfolios in eine Immobiliengesellschaft an. Das Aktionariat ist jedoch zu breit gestreut, um diesbezüglich einen Konsens zu finden.
2010 verkauft die Firma Streiff 100% ihrer Aktien an die Firma HIAG in Basel. Seither investiert diese in eine langfristige «Vision Aathal». Ein Resultat davon ist die Event-Location „SHED15 events&more“ im 1. Obergeschoss der alten Spinnerei.